Hintergrund zum Brexit

Kritik an der EU-Mitgliedschaft gab es von Anfang an: Die Insel war gespalten, als das Vereinigte Königreich am 1. Januar 1973 der Europäischen Mitgliedschaft beitrat. Mit dem Vertrag von Maastricht im Jahr 1992 wurden die Kritikerstimmen lauter und die EU-kritische Partei UK Independence Party (UKIP) vereinte immer mehr Stimmen auf sich. Am 23. Juni 2016 hat sich die britische Bevölkerung schließlich in einem Referendum für den Austritt des Vereinigten Königreiches aus der EU entschieden. Nun muss die britische Regierung über die Einreichung des formellen Austritts entscheiden und die EU über die weiteren Schritte beraten. Bis zum Abschluss dieser Verhandlungen gelten für Großbritannien alle bisherigen Rechte und Pflichten.  
 

Wie geht es nach dem Brexit weiter?

Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union sieht vor, dass ein Mitgliedsstaat, der aus der EU austreten möchte, zunächst den Europäischen Rat über diese Entscheidung informieren muss. Das Referendum allein setzt diesen Prozess nicht in Gang. Für die weiteren Verhandlungen sieht der Artikel 50 eine Übergangsphase von bis zu zwei Jahren vor. Während dieser Zeit bleibt das Vereinigte Königreich reguläres Mitglied der EU. Erst, wenn das Austrittsabkommen in Kraft tritt, gelten die europäischen Verträge nicht mehr. Was dann gilt, werden die Verhandlungen zeigen. 
 

Was bedeutet der Brexit fürs Unternehmensrecht, im Datenschutz und für die Mitarbeiter?

Im Bereich des Gesellschaftsrechts könnte der Brexit insbesondere Auswirkungen bei der Wahl der Rechtsform und der Planung von Umstrukturierungen haben. So verlöre eine britische Limited (Ltd.) mit Verwaltungssitz in Deutschland ihren Status als Kapitalgesellschaft. Bei einem Austritt aus der EU würde Großbritannien zu einem „unsicheren Drittland“ im Sinne des derzeitigen Datenschutzrechts und der neuen Datenschutzgrundverordnung. Möglich ist, dass für die Übermittlung von Daten in das Vereinigte Königreich dann zusätzliche Anforderungen, etwa der Abschluss eines EU-Standardvertrags, nötig würden. In arbeitsrechtlicher Hinsicht fänden bei einem Brexit die EU-Grundprinzipien der Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit sowie die europäische Verordnung zur Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme keine Anwendung mehr. Die Folge: In Großbritannien aktive EU-Unternehmen müssten für ihre Mitarbeiter Visa und Arbeitserlaubnisse beantragen.Weitere Einschätzungen von Rechtsexperten lesen Sie in diesem Artikel bei Markt und Mittelstand.
 

Welche Auswirkung hat der Brexit auf die Logistik in Europa?

Zwar werden die Warenströme nach dem EU-Austritt zunächst weiterfließen wie bisher, da die Verträge zwischen Großbritannien und seinen Handelspartnern neu verhandelt werden müssen. Doch danach sind aus Sicht der BVL-Experten viele unterschiedliche Szenarien möglich. Die beiden Extreme: Im Falle einer ansonsten unveränderten EU, ist sogar mit deutlichem Wachstum des Wirtschaftsbereichs Logistik in Deutschland zu rechnen, da Logistikzentren aus dem Vereinigten Königreich zurück auf das Festland wandern würden. Denkbar ist aber auch ein weiteres Auseinanderfallen der Europäischen Union, wenn andere Länder dem Beispiel Großbritanniens folgen und eigene Referenden organisieren. Mehr zum Thema vom BVL-Vorsitzenden bei der Beschaffung aktuell.
 

Ist jetzt mit neuen Kennzeichnungspflichten, Zöllen etc. zu rechnen?

Bis das Vereinigte Königreich vollständig aus der EU ausgetreten ist, gelten weiterhin die Grundfreiheiten des Europäischen Binnenmarktes. Das Vereinigte Königreich darf in dieser Zeit keine Regelungen erlassen, die EU-Recht widersprechen. Einschränkungen wie Zölle oder neue Kennzeichnungspflichten wird es demnach nicht geben.  
 

Was ändert sich für deutsche Unternehmen, die einen Sitz im Vereinigten Königreich haben?

Fast 2.000 deutsche Unternehmen mit insgesamt 420.000 Mitarbeitern sind im Vereinigten Königreich aktiv. Zu den größten deutschen Investoren zählen u. a. Bosch, BMW, VW, E.ON und RWE. Bis zum Austritt können alle Unternehmen im Vereinigten Königreich nach denselben Regelungen tätig sein wie bisher. 
 

Wie wichtig ist der britische Markt für Deutschland?

Deutsche Unternehmen pflegen enge Beziehungen mit dem Vereinigten Königreich. Das Vereinigte Königreich ist laut Deutschem Industrie- und Handelskammertag (DIHK) drittgrößter Abnehmer deutscher Exporte weltweit. Jährlich liefert Deutschland Waren im Wert von rund 90 Milliarden Euro auf die Insel. Wichtigste Exportgüter sind Kraftwagen und Kraftwagenteile (29, 1 Mrd. Euro) sowie Maschinen (8,8 Mrd. Euro). Kraftwagen und Kraftwagenteile sind auch die Güter, die Deutschland primär von der Insel importiert (6 Mrd. Euro) sowie sonstige Fahrzeuge (4,4 Mrd. Euro). Schätzungsweise 750.000 Arbeitsplätze hängen hierzulande davon ab, so DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben.  


Womit muss die deutsche Industrie jetzt rechnen? 

Welche Auswirkungen der Austritt des Vereinigten Königreichs für deutsche Unternehmen hat, hängt insbesondere davon ab, wie in Zukunft die Beziehungen des Vereinigten Königreichs zur EU ausgestaltet sind. Diesbezüglich ist es schwer vorzugreifen. Aktuelle Stimmungen innerhalb der größten Branchen gibt es hingegen schon:  

Autoindustrie

Fast jedes fünfte in Deutschland produzierte Auto geht ins Vereinigte Königreich. Der deutsche Marktanteil auf der Insel liegt aktuell bei ca. 50 Prozent. Mit dem Austritt der EU könnten wieder eingeführte Zölle Exporte verteuern, wovor auch Matthias Wissmann, Präsident des Branchenverbandes VDS, warnt. Auch werden in Deutschland fabrizierte Fahrzeuge durch das schwächere Pfund im Vereinigten Königreich teurer. 

Maschinenbau

Thilo Brodtmann, Hauptgeschäftsführer des Branchenverbandes VDMA, sieht den Austritt Großbritanniens kritisch. Gingen im Jahr 2015 noch deutsche Maschinen im Wert von 7,2 Milliarden Euro nach Großbritannien, sank das Volumen der Ausfuhren im ersten Quartal 2016 bereits um 4 Prozent.  

Elektroindustrie

Wie das ifo-Institut herausfand, sind 53% der Unternehmen in der Elektroindustrie vom Brexit betroffen – das ist besonders viel. Das Vereinigte Königreich ist viertwichtigster Abnehmer für deutsche Elektroprodukte und drittgrößter, ausländischer Investitionsstandort deutscher Unternehmen der Elektroindustrie. 2015 betrug der Wert exportierter Elektroprodukte noch knapp 10 Milliarden Euro (Quelle: Branchenverband ZVEI). 

Chemieindustrie

2015 exportierte die Chemieindustrie nach Angaben des Verbandes VCI noch Produkte im Wert von 12,9 Milliarden Euro ins Vereinigte Königreich – vor allem Spezialchemikalien und Pharmazeutika, was etwa 7,9 Prozent der Gesamtexporte der Branche entsprach. Nach dem Referendum erwartet die Branche nun einen Rückgang des Handels sowie rückläufige, grenzüberschreitende Investitionen. Auch Branchenverband-Chef Marjin Dekkers rechnete bereits vor dem Referendum bei einem Negativ-Ausgang mit weniger Wirtschaftswachstum und einem schwächeren Exportgeschäft.  
 

Was sagen Wirtschaftsexperten zum Brexit und wie schätzen sie die Folgen ein? 
 

Peter F. Schmidt, CEO Visable

„Man muss den Brexit differenziert betrachten. Für die europäische Idee ist der Brexit natürlich ein Super-GAU. Ein wichtiges Land, das mit seiner liberalen Denkweise eine wichtige Säule dieser Idee war und bis heute ist, scheidet aus. Wirtschaftlich hingegen sehe ich den Brexit für deutsche Unternehmen nicht so skeptisch, denn er trifft vor allem England selbst. Die EU wird wirtschaftlich dadurch nicht nachhaltig geschädigt. Die Börsen werden sich schnell erholen und Handelsabkommen mit Asien und vor allem den USA haben weit größere Tragweite als die mit England. Allerdings sollte nun auch deutlich sein, dass es kein „weiter so“ geben kann, wenn man nicht riskieren möchte, dass weitere Staaten ausscheiden. Deshalb muss sich die Politik zwingen, endlich längst überfällige Reformen des EU-Systems umzusetzen. Damit ist der Brexit auch eine große Chance für uns alle.“ 
 

Corinna Nienstedt, Geschäftsführerin der Handelskammer Hamburg

"Bis zum formellen Austritt Großbritanniens in voraussichtlich einigen Jahren wird sich für die kleinen und mittelständischen Unternehmen wenig ändern. Unsicherheit besteht jedoch darüber, wie es nach dem formellen Austritt Großbritanniens weitergehen wird. In jedem Falle würden im Warenverkehr zwischen der EU und Großbritannien Bürokratiekosten durch förmliche Zollanmeldungen entstehen. Falls sich beide Seiten nicht auf ein bilaterales Handelsabkommen einigen sollten oder Großbritannien nicht dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) oder der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) beitritt, würde Großbritannien zollrechtlich als Drittland ohne präferenzielle Handelsvereinbarung behandelt werden, sodass Zölle den grenzüberschreitenden Handel verteuern würden. Ganz generell führt Unsicherheit im Wirtschaftsleben meist auch zu einer Zurückhaltung bei Investitionen." 
 

Dr. Christoph Feldmann, Hauptgeschäftsführer des BME

„Der Brexit sendet ein schlechtes Signal für alle Unternehmen. Insbesondere bei Zukunftsthemen wie Industrie 4.0 – und hier sind deutsche Unternehmen Vorreiter – ist ein Europa der offenen Grenzen und der engen Zusammenarbeit für alle Beteiligten ein Wettbewerbsvorteil. Der Brexit verunsichert alle Beteiligten aus der Supply Chain. Welche Auswirkungen er konkret auf die wirtschaftlichen und rechtlichen Beziehungen hätte, ist derzeit noch nicht abzuschätzen. Mögliche Folgen wären aber Anpassungen an den Prozessen in den Lieferketten, der Rechnungsstellung, der Preisgestaltung oder im regulatorischen Umfeld.“

 

Fazit

Die Konsequenzen der Brexit-Entscheidung sind heute noch nicht absehbar. Inwieweit einzelne Sektoren und Branchen vom Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU betroffen sein werden, hängt wesentlich davon ab, auf welches künftige Kooperationsmodell man sich mit dem Vereinigten Königreich verständigen wird. Sicher ist jedoch, dass sich während der Verhandlungen für Unternehmen nichts ändert, denn das Vereinigte Königreich bleibt bis zum Austritt vollwertiges Mitglied der EU und Teil des europäischen Binnenmarktes.  

Aber auch nach dem Austritt besteht Hoffnung für deutsche Unternehmen: Deutschland und das Vereinigte Königreich pflegen seit mehr als 40 Jahren eine enge Handels-Partnerschaft. Laut Bundesministerium für Wirtschaft und Energie ist davon auszugehen, dass das Vereinigte Königreich auch nach dem Austritt ein enger Handelspartner Deutschlands bleibt.