Immer mehr Unternehmen lassen ihre Kunden in die virtuelle Realität eintauchen  

Vereinzelt ziehen Menschen im Freiluft-Pool ihre Bahnen, das Wasser rauscht unter wolkenfreiem Himmel. So weit der Blick am Horizont auch geht: Rundherum nichts als Meer und Sonne. Reihe an Reihe penibel aufgestellte Sonnenliegen. Unter den Füßen frisch gebohnerte Schiffsplanken. Fast wie die Wirklichkeit. Nur: Der Cocktail in der Hand fehlt ebenso wie der Geruch von salziger Meeresluft und das Wummern des Schiffsmotors. Alles nur Illusion.  Denn Kunden der Kreuzfahrtgesellschaft Tui Cruises können mit einer Cyberbrille in die Welt des Kreuzfahrtriesen „Mein Schiff” eintauchen. 
 


„Für einen ersten Eindruck ist Virtual-Reality (VR) besser als der Besuch auf der Website oder der Blick in den Katalog“, sagt Udo Lutz, der den Vertrieb bei Tui Cruises verantwortet. Der Kreuzfahrtspezialist legte seine VR-App bereits im Frühjahr 2014 auf und gilt damit als einer der Vorreiter in der Branche. Lutz: „Wir sind absolut überzeugt von unserer Idee, den klassichen Kreuzfahrtvertrieb mit dieser neuartigen Technologie zu kombinieren. Wir wollen in Zukunft mit der Cyberbrille ganze Schiffsrundgänge über unsere Wohlfühlflotte möglich machen.“ 

Neben Tui Cruises hat auch das Traditionsunternehmen Villeroy & Boch VR für sich entdeckt. Der saarländische Keramikkonzern beschäftigt sich ebenfalls seit 2014 mit VR und setzt die Technologie im Unternehmensbereich Bad und Wellness ein. Eine Unternehmenssprecherin: „Im vergangenen Jahr haben wir die VR-Brille zur Badplanung erstmals auf der Messe ISH vorgestellt – mit sehr positivem Feedback.“ Aktuell befindet sich das Unternehmen in einer Pilotphase. Zehn Händler, ein Villeroy & Boch-Infocenter und das „House of Living“ in Lübeck wurden mit der neuen Technologie ausgestattet. „Der Kunde hat so die Möglichkeit, sein individuell geplantes Bad virtuell zu erleben und bekommt eine genaue Vorstellung davon, wie es aussehen wird”, so die Sprecherin. „Außerdem können wir mit VR auch Neuheiten oder noch nicht lieferbare Produkte schon vorab virtuell präsentieren.“ 

Auch wenn der Markt noch sehr überschaubar ist: Analysten, wie die von der US-Investmentbank Goldman Sachs (siehe Tabelle), sehen großes Potenzial in Virtual und Augmented Reality. So sagt Goldman Sachs voraus, dass in neun Jahren zwischen 50 und 300 Millionen VR-Headsets verkauft werden. Insgesamt werden laut den Analysten in 2025 mehr als 300 Millionen Menschen VR-Anwendungen nutzen. Durch die VR-Technologie wird ein Umsatz von 35 Milliarden US-Dollar generiert.  

Folgende Branchen werden 2025 demnach am stärksten von VR/AR profitieren:

Doch die virtuelle Realität drängt nicht nur in den Konsum-Sektor, um Kunden Reisen oder Bäder schmackhafter zu machen. Auch im B2B-Bereich wird sie immer wichtiger. So sieht der Münchener Konzern Siemens Vorteile in virtuellen Testläufen – sei es anhand von Avataren, virtuellen Produktmodellen oder modellgesteuerter Software. Was Zeit und Kosten spart. „Statt teure, ungeprüfte Prototypen zu bauen, die später nachgebessert werden müssen, können gravierende Konstruktionsfehler dank Vorab-Simulation gleich vermieden werden“, heißt es bei Siemens. 

Ob Großindustrie, Unterhaltungsbranche, Bildungssektor oder Konsumgüter (FMCG): VR wird in den kommenden Jahren aus dem Nischen- in den Massenmarkt drängen – dafür werden Google, Facebook und Samsung mit ihren Angeboten, in die sie teilweise Milliarden US-Dollar investiert haben, schon sorgen. Unternehmen, die jetzt VR für ihre Kommunikation und den Aufbau ihrer Marken nutzen, gehören derzeit noch zu den Pionieren. Sie können sich jedoch in einem potenziell milliardenschweren Markt damit eine Vorreiterrolle sichern. 

Clutch sprach mit Professor Dr. Andreas Hebbel-Seeger von der Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation (MHMK) über das Trendthema.

Warum erfährt diese Technik gerade jetzt so einen Hype?

Hebbel-Seeger: „Das liegt vor allem an der Weiterentwicklung der Endgeräte. Mit jedem Smartphone und einem kostengünstigen Papp-Gestell mit Plastiklinsen kann virtuelle Realität erlebt werden. Aber auch der Einstieg von Facebook bei der VR-Brille Oculus Rift oder der Start von Samsung Gear VR haben zu dieser Entwicklung beigetragen. Seit Juni 2016 können Facebook-Nutzer 360-Grad-Videos posten. Dadurch entstehen ganz neue Nutzungsszenarien und gleichzeitig reduzieren sich die Hürden für den Gebrauch zunehmend.”

Für welche Branchen bietet sich der Einsatz von VR an? Mal abgesehen von der Spiele- und Unterhaltungsindustrie, die ja bereits stark auf VR setzt?

Hebbel-Seeger: „Tatsächlich können nahezu alle Branchen von dieser Technologie profitieren. Denn die Bandbreite an Möglichkeiten für den Einsatz von 360-Grad-Videos als Marketingtool ist riesig. Wir haben es ja heutzutage in allen Wirtschaftsbereichen mit der Situation zu tun, dass sich unterschiedliche Marken und Produkte kaum noch über Qualität oder Preis differenzieren. Entsprechend muss eine Differenzierung anders aufgeladen werden: Marken und Produkte werden in Markenwelten inszeniert. Hierfür bieten sich VR-Inhalte an, um Kunden in eine Markenwelt ‚eintauchen‘ zu lassen und orts- und zeitunabhängig mit Produkten zu interagieren. Darüber hinaus bieten sich Nutzungsoptionen in der Aus- und Fortbildung ebenso wie im sportlichen Training.”

Welche Produkte bieten sich für den Einsatz von VR besonders an?

Hebbel-Seeger:  „Zunächst natürlich diejenigen, die sich über und in Räumen definieren: also Möbel und Einrichtungsgegenstände. Grundsätzlich können aber eigentlich alle Konsum-Produkte, deren Markenerlebnis mit einer neuen Dimension versehen werden soll, diese Technologie nutzen.” 

Was ist der Unterschied zwischen Augmented Reality (AR) und VR?

Hebbel-Seeger: „Bei VR selbst muss man zwischen einer artifiziellen Realität, die am Computer gebaut wurde, und der Visualisierung der realen Welt unterscheiden. In der künstlich geschaffenen Welt kann man Einfluss auf die Handlung nehmen, bei VR-Videos kann der Nutzer lediglich seine Perspektive verändern. Augmented Reality hingegen gibt es nicht erst im Zeitalter von Computer und Smartphone, auch wenn wir heute damit meist die Betrachtung der Umwelt über ein Display oder durch eine Datenbrille verbinden. Jede Erweiterung der eigenen Weltsicht ist aber eine ‘Augmented Reality’. Das heißt, auch jeder Steuermann auf einem Schiff, der mithilfe von Radar navigiert, nutzt in diesem Sinne AR.”

Dieser Beitrag stammt aus dem Magazin Clutch, dem Gesellschaftsmagazin für die digitale Welt, und wurde im September 2016 im Printheft (Ausgabe 1) veröffentlicht. Text und Interview: Florian Zettel.