Dass Axel Ohm einmal die Hamburger Bierszene verändern würde, hatte er nie geplant. Wie so vieles in seinem Leben ergab es sich durch eine Verkettung von Zufällen. Erst arbeitete Ohm als Profisurfer, dann als Nichtraucher für eine Zigarettenfirma. Er zog nach Südafrika, gründete eine Touristikfirma für ökologische Safaris und engagierte sich in sozialen Projekten. In Kapstadt gab es damals zwar schon eine lebendige Craft-Beer-Szene, die interessierte ihn aber nicht. Seine Leidenschaft galt dem Anbau von Wein.

Das änderte sich, als er 2011 nach Hamburg zurückkehrte, in seine Heimatstadt. Denn Ohm, heute 55 Jahre alt, wollte, dass seine beiden Töchter in Deutschland zur Schule gehen. Nach einem neuen Job musste er nicht lange suchen: Oliver Nordmann, Geschäftsführer der Nordmann-Gruppe, einem Getränkegroßhändler, fragte ihn, ob er nicht als Marketing-Chef bei einer Wiederbelebung der Marke Ratsherrn mithelfen wolle. Diese war 1995 vom Markt verschwunden. Der Hanseat sagte „Ja“.

Einst war Hamburg das „Brauhaus der Hanse“
 

Ohm fing an, in Archiven nach Dokumenten zur Biergeschichte Hamburgs zu suchen. Er fand heraus, dass Bier in Hamburg eine sehr lange Tradition hatte, ja, dass die Hansestadt sogar einst das „Brauhaus der Hanse“ war und in der Altstadt Hopfen angebaut wurde. „Um 1540 gab es hier 540 Braustätten“, sagt Ohm. „Es gibt eine Sammlung, die zeigt, dass hier einmal bis zu 2.000 verschiedene Biersorten hergestellt wurden.“ Ohm dachte: Und jetzt gibt es nur noch dieselben drei Sorten Pils. Warum nicht an die Vielfalt von früher anknüpfen?

Weil auch der Braumeister von Ratsherrn Lust hatte, neue Biersorten zu entwickeln, wurde Craft Beer zum neuen Konzept der alten Biermarke. Es wurde zwar auch ein Pilsener unter dem Namen Ratsherrn eingeführt, zum Markenzeichen aber wurden die neuen Sorten wie Rotbier oder Pale Ale. Gebraut wurde das Bier in den Schanzenhöfen, in der Nähe des Messegeländes. „Das war der Startschuss für Craft Beer im Norden“, sagt der Markenprofi.

Der Trend kommt aus den USA
 

Craft Beer, so bezeichnet der Deutsche Brauerbund „meist hopfen- bzw. malzbetonte, aromaintensive, individuelle Biere, die von Experimentierfreude und Regionalität geprägt sind“. Eine genaue Definition von Craft Beer (übersetzt: „handwerklich gebrautes Bier“) gibt es nicht in Deutschland. Seinen Ursprung hat Craft Beer in den USA. Dort gab es lange Zeit nur sehr wenige sehr große Brauereien: In den Achtzigerjahren produzierten 89 Brauereien Bier für 225 Millionen Menschen. Das hatte zur Folge, dass fast alle Amerikaner Bud tranken. In Deutschland gab es zur gleichen Zeit bereits 1.415 Brauereien. Wegen der fehlendenden Biervielfalt fingen damals in den USA mehr und mehr Mikrobrauer an, unabhängig von den Konzernen neue Biersorten zu brauen. Das nannten sie „Craft Beer“. 2014 gab es dadurch schon 3.464 Brauereien in den Staaten.

Was in den USA heute als Craft Beer gilt, hängt von der Menge ab, die Brauer produzieren. Die amerikanische Brauervereinigung hat für Craft Beer einen Höchstwert von 7,15 Millionen Hektolitern Bier pro Jahr festgelegt. Nach diesem Maßstab wären selbst die größten deutschen Brauereigruppen Craft-Beer-Hersteller.

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Rotbier, Weißbier, Schwarzbier, hanseatisches Porter, Ale, Pale Ale, India Pale Ale, Böcke, Doppelböcke, pechschwarze Stouts – an die Hundert Biersorten werden in Hamburg gebraut.

Die Zeiten, in denen es nur Astra und Holsten gab, sind vorbei
 

Für Ohm fing sein Bier-Projekt mit Ratsherrn erst richtig an: Gemeinsam mit dem Unternehmen und dem Gastronomen Patrick Rüther eröffnete er 2013 in den Schanzenhöfen das „Alte Mädchen“, Hamburgs erste Craft-Beer-Kneipe. Auch Veranstaltungen wie Craft-Beer-Days sollten die neuen Biersorten in Hamburg bekannter und beliebter machen. Mit Erfolg: Die Zeiten, in denen es in der Hansestadt nur Astra und Holsten und vielleicht noch Flens oder Jever gab, sind vorbei. Bier ist wieder zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor geworden.

Rotbier, Weißbier, Schwarzbier, hanseatisches Porter, Ale, Pale Ale, India Pale Ale, Böcke, Doppelböcke, pechschwarze Stouts – an die Hundert Biersorten werden inzwischen in Hamburg gebraut. Von den 17 Herstellern haben viele allerdings keine eigene Brauerei. Die Marken Kuddel, elbPaul, Premium, Von Freude und Hopper Bräu etwa mieten sich als sogenannte »Gypsy Brewer« anderswo ein. Gröninger, Blockbräu und Joh. Albrecht sind kleine Gaststättenbrauereien. Wirkliche Craft-Beer-Brauereien gibt es der Sozietät Norddeutscher Brauereiverbände zufolge nur vier in Hamburg – von insgesamt 14 Brauereien.

Laufen und Biertrinken gehört für die Tide Runners zusammen
 

Auch Marc Suxdorf ist Teil der Hamburger Craft-Beer-Szene. Der 50-Jährige leitet eine Designagentur und ist Mitbegründer der Laufgruppe Tide Runners, die es seit vier Jahren gibt. Dazu gehören an die 60 Leute, die sich jeden Mittwoch um 21 Uhr vor dem Hostel Superbude treffen, um zu laufen, acht Kilometer oder 15 Kilometer. „Nach dem Laufen gibts Bier“, sagt Suxdorf.

Das ist das Konzept. Deswegen entstand auch die Idee für ein eigenes Craft Beer. Denn in der Superbude gab es damals nur Karlsberg. Suxdorf und Henning Heide, der Mitbegründer der Laufgruppe, wollten eines brauen, das nicht zu schwer und nicht zu hopfig ist – und entwickelten ein Rezept dafür. Eine kleine Brauerei in der Nähe von Hannover braut seitdem das Craft Beer für Läufer.

Im Juni vergangenen Jahres war es so weit: Mit einem Transporter trafen 2.800 Flaschen ihres eigenen Tide Runners-Biers ein. „Das haben wir dann bei unseren Feiern und an unsere Läufer verkauft“, sagt Suxdorf. Und auch in der Superbude stand es von da an im Kühlschrank. „Wir sind die einzige Läufergruppe mit einem eigenen Bier“, sagt er, nicht ohne Stolz. Und weil es bei den Mitgliedern der Gruppe gut ankam und die 2.800 Flaschen schon fast leer sind, entwickelten sie schon wieder ein neues Bier. Jedes Jahr eine neue Biersorte für die Laufgruppe, das sei der Plan.

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In der Gastronomie ist noch Luft nach oben
 

Bis zum Frühjahr 2016 führten Axel Ohm und Patrick Rüther das „Alte Mädchen“, dann gaben sie das Lokal an Ratsherrn ab und widmeten sich ihrem neuen Projekt: den Riverkasematten. In dem denkmalgeschützten Gebäude zwischen Fischmarkt und Landungsbrücken eröffneten sie dann im Juni 2017 das „Überquell“ – eine Mischung aus Mikrobrauerei, Brauwerkstätte, Veranstaltungsort, Pizzeria und Brew-Pub.

„Wir brauen dort fünf Standardsorten und pro Jahreszeit und pro Monat noch ein besonderes Bier“, sagt Ohm. Gerade in der Gastronomie sei noch viel Luft nach oben für Craft Beer, sagt er: „Im Handel gibt es mittlerweile schon eine sehr große Auswahl an Craft-Beer-Sorten, aber in der Gastronomie ist es bisher kaum verbreitet.“

Das liegt daran, dass viele Gaststätten durch Verträge mit Großhändlern und Brauereien dazu verpflichtet sind, Getränke aus deren Portfolios zu verkaufen. Sie dürfen also nicht einfach Craft Beer anbieten. Ohm hofft, dass sich das durch mehr Start-ups in der Gastronomie ändert. Noch hat Craft Beer in Deutschland dem Deutschen Brauer-Bund zufolge nur einen Marktanteil von ein bis zwei Prozent.

Was Ohm an der Craft-Beer-Bewegung besonders freut, ist, dass dadurch auch mehr Frauen auf den Geschmack von Bier kommen. „Mehr als die Hälfte unserer Gäste sind Frauen, die mit Freundinnen kommen, um ein Bier zu trinken.“ Bei Industriebier ist das nach wie vor eher Männersache.

Auf den Geschmack gekommen
 

Seit etwa 30 Jahren sinkt in Deutschland die Nachfrage nach Bier. Deswegen versuchen Brauer den Konsumenten das Getränk mit immer mehr neuen Sorten wieder schmackhaft zu machen – mit Land- und Keller-Bier oder eben mit Craft Beer. Laut dem Deutschen Brauer-Bund gibt es in Deutschland mehr als 1.400 Brauereien und 6.000 Biermarken – und es werden jedes Jahr mehr. Die meisten Brauereien, insgesamt acht, entstanden 2016 im Großraum Hamburg und Schleswig-Holstein. Es sind vor allem kleine Brauereien, die gegründet werden. Hauptgrund dafür ist die wachsende Beliebtheit von Craft Beer.