Die Automobilindustrie bietet für beide Prinzipien die Muster. So, wie die Fließbandproduktion des Ford-T-Modells zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Vorlagen lieferte – "Sie können Ihr Auto in jeder beliebigen Farbe haben, solange diese Schwarz ist!" (Henry Ford) -, so bieten die modernen Automobilhersteller heute einen Konfigurator auf ihren Webseiten an, der es den Kunden ermöglicht, ihr neues Auto praktisch zum unverwechselbaren Individualprodukt zu machen.

Mass Customization ist ein Ziel von Industrie 4.0
 

Die individualisierte Massenfertigung wurde erst möglich mit der Flexibilisierung der Produktion. Dieser Prozess setzte Mitte der 1980er-Jahre ein, als die Losgröße eins in der Automobilindustrie als Entwicklungsziel ausgerufen wurde.

Schon wenige Jahre später konnten vor allem die Kunden der Premium-Klassen ihre Fahrzeuge mit individuellen Ausstattungsdetails und Leistungskombinationen bestellen. Die preiswerteren Modelle wurden in Varianten angeboten und erlaubten den Käufern individuelle Farbkombinationen.

Bei den Herstellern der Spitzenprodukte ist die Losgröße eins inzwischen eine Selbstverständlichkeit. Dabei spielen nicht nur Kundenwünsche, sondern auch Zulassungsvorgaben wie Schadstofffilter oder Brandschutzeinrichtungen eine große Rolle. Es steht zu erwarten, dass die Differenzierung von Sicherheitsvorgaben, Umweltschutzauflagen, Zertifizierungen oder Steuerbestimmungen die Individualisierung vieler Produkte weiter antreiben wird.

Möglich wird dies durch die Vernetzung der Datensysteme und durch die Auslagerung von Endfertigungslinien an Spezialisten. Dabei sind zwei wesentliche Formen der Individualisierung von Bedeutung:
 

  • Unter Soft Customization wird die Individualisierung nicht in der Fertigung, sondern außerhalb der eigentlichen Produktion vorgenommen. Beispiele für diese Form der Anpassung an Kundenwünsche oder an andere Vorgaben finden sich in der Software-Industrie (Unternehmenssoftware, Fertigungssteuerungen, Automatisierung), bei den Anbietern von Finanzprodukten, im Internet bei Streaming-Diensten oder bei Catering-Dienstleistungen, Telefon-Hotlines und Online-Shops.
  • Bei der Hard Customization erfolgt die Anpassung schon in der Fertigung. Dazu erfolgt eine Aufteilung in die standardisierte Vorproduktion und eine individuelle Endproduktion. Es kann aber auch der umgekehrte Weg beschritten werden, zum Beispiel durch eine individualisierte Produktion von Unikaten, die dann standardisiert endgefertigt werden. Beide Varianten kommen heute vor, nicht nur in der Automobilindustrie, sondern auch bei der Herstellung von Medizinprodukten oder Drucksachen.

Generell kann gesagt werden, dass vor allem höherwertige Produkte sich durch individuelle Features auszeichnen. Diese Prämissen führen auch in Ländern wie China oder Südkorea zu einem Wandel der Produkte und der Produktionsverfahren. Wie schnell dieser Wandel eintritt, ist zum Beispiel auf den großen internationalen Messen zu sehen, wo inzwischen auch die Produkte aus Schwellenländern mit den aktuellsten Technologien zu finden sind. 

Vom Procurement zum E-Procurement
 

Für die Beschaffung im Rahmen der Produktherstellung hat diese Entwicklung dramatische Auswirkungen. Dabei ist die gesamte Lieferkette in den Wandel eingeschlossen. Die Produktentwicklung ohne Einbeziehung neuer und variantenreicher Optionen ist ebenso undenkbar wie die Beschaffung von Gütern für die Produktion ohne Nutzung globaler, zumindest internationaler Quellen. Aber auch der Vertrieb von Produkten ohne Vernetzung mit dem Beschaffungswesen wird künftig keine Option mehr sein, denn die individualisierten Produkte schaffen neue Formen der Kundenbindung und der Verpflichtung für die Hersteller und Lieferanten.

Die Beschaffung von Ersatzteilen und Ergänzungsprodukten, die Anpassung an steigende Kundenbedürfnisse oder an regulative Vorgaben, zum Beispiel durch Umweltschutzauflagen, verlangen nach ständiger Verbindung zum Einkauf, zur Qualitätssicherung, zur Bereitstellung von Ressourcen.

Lösbar sind diese Aufgaben nur durch nachhaltige Verbesserungen der Informationswege. Es genügt einfach nicht mehr, im Katalog (auch im elektronisch verfügbaren Katalog) nach den passenden Zulieferteilen oder Materialien zu suchen. Beschaffung ist heute schon eine strategische Aufgabe, durch die individuelle Ausführung von Produkten und Dienstleistungen rückt sie noch weiter in den Mittelpunkt unternehmerischer Entscheidungen und Prozesse. 

Ängste abbauen, Kontakte knüpfen, lernen
 

Die großen Branchen wie die Automobilindustrie, die Chemische Industrie oder die führenden Dienstleistungsunternehmen sind mit der globalen Wirtschaft vernetzt und vertraut. So weit ist ein großer Teil der kleinen und mittelständischen Unternehmen noch lange nicht. Bei ihnen findet die Globalisierung noch "rund um den Kirchturm statt", wie die Zeitschrift Markt und Mittelstand es ausdrückt.

Dahinter stecken viele Ängste. Zwar sind führende Mittelstandsunternehmen, zum Beispiel im Maschinenbau, schon längst über die Grenzen gegangen und haben Erfahrungen gesammelt. In der Vergangenheit waren es günstige Beschaffungspreise, die der Suche nach Geschäftspartnern in Asien oder Amerika den Anstoß gaben. Diese Zeiten sind jedoch vorbei, vor allem in Bezug auf China.

Viele chinesische Unternehmen sind heute nicht mehr als Zulieferer interessant, sondern eher als Kunden. Mit dem Erfolg der "verlängerten Werkbank" wuchsen in China die Ansprüche, auch in Bezug auf die Qualitäten einer Geschäftsbeziehung. Heute suchen Chinas Produzenten die Partnerschaft mit innovativen Mittelstandsunternehmen in Deutschland oder sie kaufen sich gleich ein.

Noch bestehen teilweise berechtigte Ängste in Bezug auf den ungewollten Technologie-Transfer. Doch bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass diese Ängste immer mehr ihre Grundlage verlieren. Chinesische Unternehmen gewinnen heute schon und zukünftig noch stärker eigene Kompetenzen in der Technik und der Organisation industrieller und wirtschaftlicher Prozesse. Sie werden deshalb verlässlichere und interessantere Partner. 

Fazit
 

Die Individualisierung von Produkten ist ein Merkmal hochentwickelter Industrien und Techniken. Dieser Prozess wird sich schnell weiterentwickeln und bietet vor allem kleinen und mittleren Unternehmen neue Chancen im Wettbewerb. Dabei kommt der Beschaffung von Waren und Dienstleistungen eine besondere Bedeutung zu.

Durch die fortschreitende Vernetzung mit internationalen Kunden, Partnerunternehmen und Lieferanten/Zulieferern kommt dem digital unterstützten Procurement eine Schlüsselstellung in den Betriebsabläufen und im Management zu.

E-Procurement ist mehr als die Beschaffung mithilfe elektronisch aufgelegter Kataloge. Es ist eine strategische Aufgabe, die darüber entscheidet, wie wettbewerbsfähig und zukunftssicher ein Unternehmen geführt wird.

Der hohe Wissensstand und die technologischen Fähigkeiten bieten auch KMU gute Chancen für eine erfolgreiche unternehmerische Zukunft.