Herr Höbig, ist es realistisch, dass Procurement in Zukunft vollautomatisiert abläuft? Wird die Automatisierung der wichtigste Trend im Procurement der nächsten Jahre sein?

Michael Höbig: Im operativen Einkauf gibt es heute bereits sehr viele automatisierte oder automatisierbare Prozesse. Dies wird vor allem im Seriengeschäft weiter zunehmen. Das heißt auch, dass die Bedeutung des operativen Einkaufs, vor allem in Branchen, die Commodities anbieten, abnimmt. Langfristig wird also dem strategischen Einkauf eine größere Bedeutung zukommen. Bei individualisierten Leistungen und Gütern sehe ich zudem eine Verlagerung hin zu einem reinen Projekteinkauf.

Es gibt bereits Bereiche, in denen Bedarfsermittlung und Bestellung automatisiert sind (z. B. Predictive Maintenance). Auch der Transport könnte zukünftig automatisiert ablaufen, z. B. mit selbstfahrenden Autos und Lkw. Ist es vorstellbar, dass das bei Qualitätsprüfung, Rechnungsabwicklung und Weiterverarbeitung ebenfalls so kommt?

Durch neue Technologien wird sich ein Großteil der Abläufe vor allem im kaufmännischen Bereich stark verändern. Hinzu kommt, dass diese neuen Technologien die Strukturen der Supply Chains beeinflussen. Eine dezentrale Technologie wie die Block Chain ermöglicht eine Peer-to-Peer-Kommunikation, die die Intermediäre ausschaltet. Dies betrifft grundsätzlich alle Prozesse, die Informationen in der Lieferkette transportieren. Dazu gehören dann das Qualitätsmanagement oder das Risikomanagement.

Wie vereinfacht sich das Supply-Chain-Management durch die voranschreitende Digitalisierung?

Die Digitalisierung von Prozessen ermöglicht es, Effizienzgewinne in der Supply Chain zu realisieren. Beispiel hierfür ist die kontinuierliche Aktualisierung von Zuständen in der Lieferkette. Dazu zählen Bestellungen, Lieferzeitpunkte, Verkaufszahlen etc. Dies hilft dabei, Planungen genauer durchzuführen, Bestände zu senken oder Zusatzkosten zu reduzieren.

Welche Bereiche des Einkaufs können aus Ihrer Sicht nicht von Maschinen übernommen werden? Wo ist der Mensch nicht ersetzbar?

Grundsätzlich ist alles, was logischen, also algorithmierbaren Abläufen folgt, automatisierbar. Dazu gehören die meisten Prozesse im Einkauf. Dort, wo es „menschelt“ – im Lieferantenbeziehungsmanagement und vor allem im Ausgleich von Interessen, zwischen unterschiedlichen Kulturen –, überall dort hat der Mensch noch seine Stärken. Aber die Interpretation von Stimmungen durch Stimmenanalyse oder Gesichtserkennung der Geschäftspartner wird auch hier wesentliche Veränderungen verursachen.

Viele Experten gehen davon aus, dass der Einkauf in Zukunft einen höheren Stellenwert in Unternehmen einnehmen wird. Wie schätzen Sie das ein? Könnten dadurch neue Berufe und Arbeitsplätze entstehen?

Jede Organisationseinheit strebt immer nach höherer Anerkennung. Fragen Sie einen IT-Verantwortlichen, nimmt die Bedeutung des CIO zu, fragen Sie den Marketingmanager, ist es der CMO. Die Geschwindigkeit, in der die Digitalisierung des Geschäfts voranschreitet, zwingt allerdings dazu, sich zu fragen, ob Organisationsgrenzen nicht komplett aufgelöst werden müssen. Vor allem in agilen Unternehmen können Entscheidungen nicht hierarchisch getroffen werden. Die Zeit für den Weg durch die Ebenen ist nicht da bzw. die Entscheidungen sind zu komplex. Das heißt aber, dass eine Verlagerung der Entscheidungen auf Teams, also dezentralere Einheiten erfolgt. Somit wird es Rollenbeschreibungen geben, die wichtiger werden, Berufsbilder im Einkauf werden sich komplett verändern.

Einen Teil ihres Einkaufs wickeln die meisten Unternehmen per Maverick Buying, also ohne Einbeziehung der Einkaufsabteilung ab. Denken Sie, dass dieses Vorgehen in Zukunft seltener nötig sein wird?

Hierzu muss man sich vor Augen führen, was der Auslöser ist. Maverick Buying entsteht vor allem dann, wenn der Wert des Einkaufs nicht erkannt wird. Das kann Ursachen in der mangelnden Wahrnehmung haben, dann ist an der Kommunikation zu arbeiten. Es kann aber auch sein, dass der Einkauf den Nutzen nicht aufweist. Häufig liegt dies an mangelnder Qualifikation oder schlechter Kundenorientierung. Wenn z. B. die Entwicklung den Eindruck hat, dass der Einkauf eher ein Hindernis in der Beziehung mit den Lieferanten darstellt, wird die Neigung zu Maverick Buying groß sein.

Viele Unternehmen binden ihre Einkaufsabteilung schon heute in die Produktentwicklung mit ein und wollen das künftig noch ausbauen. Wo können sich Einkäufer Ihrer Meinung nach am besten in der Produktentwicklung einbringen?

Wie erwähnt, hängt dies sehr stark an den Fähigkeiten des Einkaufs. Nur, wenn die Kompetenz vorhanden ist, in die Produktentwicklung eingebunden zu sein, kann in Teamarbeit ein zusätzlicher Nutzen entstehen. Insgesamt sind die Potenziale im Einkauf nur noch begrenzt über Verhandlungen oder Global Sourcing erzielbar. Die Zusammenarbeit wird so im Cost Engineering bzw. Value Engineering zunehmen müssen. Hier kann der Einkauf mit seiner Kenntnis des Lieferantenmarktes einen guten Beitrag leisten, sofern die Kompetenz vorhanden ist. Gleiches gilt für die Gestaltung der Lieferkette. Für kurze Produktzyklen sind Flexibilität und kurze Lieferzeiten entscheidend. Nur, wenn der Einkauf zusammen mit der Entwicklung hier Lösungen für eine passgenaue Supply Chain entwickelt, entsteht ein Wettbewerbsvorteil. Aus der Vernetzung im Markt ergeben sich auch Möglichkeiten zum Innovationseinkauf – falls der Einkauf hierzu einen strukturierten Prozess aufbietet und die Innovationen tatsächlich verarbeiten kann.

Denken Sie, dass in Zukunft alle Bestellungen via E-Procurement aufgegeben werden, oder wird sich der klassische Produktkatalog noch eine Weile halten?

Die zunehmende Verbreitung von elektronischen Katalogen führt dazu, dass für diese Technologie die Kosten der Einführung und Pflege sinken. Gleichzeitig sinkt bei konstantem Volumen die Quote konventioneller Kataloge. Das führt zu tendenziell steigenden Kosten für klassische Produktkataloge. Bei solchen technologischen Veränderungen hat das zur Folge, dass die konventionelle Technologie langsam stirbt. Die Anhänger der klassischen Kataloge wachsen dann mit der Zeit aus dem Berufsleben heraus. Entscheidend für die Durchsetzung elektronischer Kataloge ist allerdings, dass sie im Handling so einfach wie möglich werden.

Wird die Bedeutung des DACH-Raums als Beschaffungsmarkt aus Ihrer Sicht in den nächsten Jahren abnehmen? Wenn ja, welche Folgen hätte das?

Die Bedeutung der einzelnen Beschaffungsmärkte hängt stark von den internationalen Tendenzen ab. So wird die weitere Entwicklung der EU starken Einfluss auf die DACH-Märkte haben. Je nach Branche kann beispielsweise auch der chinesische Markt an Bedeutung verlieren und eine Rückverlagerung stattfinden. Für neue Geschäftsmodelle und zusätzliche Services wird genau zu beobachten sein, ob es sich um stark regionale Entwicklungen oder z. B. globale Plattformen handelt.

Herr Prof. Höbig, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.